Tränen im Krug

Tränen im Krug

Tränen im Krug sammeln jene,
die wissen,
wie Verschiedenes es zu betrauern gibt:
verstorbene Menschen und zerbrochene Beziehungen,
begrabene Hoffnungen und zerplatzte Lebensträume,
verlorene Gesundheit und nachlassende Kräfte.

Tränen im Krug sammeln jene,
die verstehen,
dass Trauer heftig sein kann und leise,
dass sie sich legen kann und unsäglich lange dauern,
dass sie voll Wut sein kann und ganz leer.

Tränen im Krug sammeln jene,
die erkennen,
dass Trauer keine Krankheit ist,
dass sie den Schlaf rauben kann,
dass sie wie in Watte eingepackt sich anfühlen kann.

Tränen im Krug sammeln jene,
die realisieren,
dass Trost nicht in grossen Worte besteht, sondern in Menschen,
die da bleiben,
die mit aushalten,
die nicht weglaufen, wenn es zum davonlaufen ist.

Tränen im Krug sammeln jene,
die sehen,
dass öffentliche Formen des Trauerns wichtig sind,
dass Verstorbene nicht allein dem engsten Familienkreis gehören,
dass zugängliche Abschiedsorte hilfreich sind.

Aufgehoben, gehalten, getragen –
oder wie es die alten Schriften sagen:
„Du sammelst meine Tränen in deinem Krug.
Ohne Zweifel, du zählst sie.“

(zwischen Allerseelen und Ewigkeitssonntag 2021, Ps 56)