Anstand

Anstand

An einer mündlichen Maturaprüfung war es, der Fachlehrer begrüsst mich an der Türe, der Prüfungsexperte sitzt in der Ecke des Raumes, schaut nicht auf und murmelt ein kaum vernehmbares Hallo. An einer mündlichen Lizentiatsprüfung war es, ein Student geht zur Prüfung in Shorts und Flipflops.
Es hätte den Experten nichts gekostet, zu grüssen. Es hätte den Studenten nichts gekostet, eine angemessene Bekleidung zu wählen.
Nicht, weil man es muss. Nicht, weil man daraus einen Vorteil ziehen könnte. Nicht, weil man es einfach tut. Es geht um mehr als um äusserliche Formen.
Es geht um eine Haltung. Es geht darum, das Gegenüber wahrzunehmen. Es geht darum, dem andern Wertschätzung zu zollen, indem man ihn ansieht. Es geht darum, sich in die Situation des andern hineinzuversetzen. Sowohl in die Rolle des angespannten Prüflings, als auch in die Rolle des Dozenten, der sich genauso auf die Prüfung vorbereitet hat. Solche Anstandsformen sind nicht veraltete Konventionen, sie sind ein Stück Einfühlung, ein Stück Wertschätzung, ein Stück Menschlichkeit.